W:O:A

Hingabe. Nein, Liebe. So muss man das sehen. Es reicht nicht, sich die zwei ausgefallenen Jahre einfach nur als traurig vorzustellen. Als temporären Verlust, als etwas, das man vermisst– die Autoschlüssel, den Freund, der in den Vorort gezogen ist, die Jugend. Nein, nein. Hier wirkt eine tiefere Emotion. Es hilft deshalb bei allem, was hier noch stehen wird, im Hinterkopf zu behalten, dass viele, die in den kommenden Tagen über das Gelände des Wacken Open Air (W:O:A) gehen, laufen, torkeln, taumeln, kullern, pogen und stürzen werden, die Jahre ohne Wacken vollkommen glaubwürdig als körperlichen Entzug empfunden haben. Metal-Cold-Turkey, 2020 – 2022.

War ja sehr anders geplant. Alles. Jubiläen standen im Kalender und zwar gleich mehrere. Wacken, 1990 im gleichnamigen Ort gestartet, wollte 2020 eigentlich 30-Jähriges feiern. Der Heavy Metal, die böse, tolle Gegenkultur zum Pop, wäre dann sogar 50 geworden. Zumindest, wenn man seinen Ursprung, was man dringend sollte, auf den 13. Februar 1970 datiert, einen Freitag, natürlich. Der Tag, an dem Black Sabbath ihr selbst betiteltes Debüt veröffentlichten – begleitet von diesem fantastisch überlebensgroßen Gründungsmythos: der Verwundung des Helden…….

Die Bühnen: tempelgroß und ehrfurchtgebietend

Die beiden Hauptbühnen und die riesigen Flächen vor ihnen sind noch hinter einem niedrigen Stahlzaun weggesperrt, aber man sieht sie schon, und für jene, die auf Entzug sind, brüllt die Verheißung bestimmt schon herüber, fordert die Evil Horns, die Mosh Pits, die Walls of Death.

Man kann die Magie von Orten, Begegnungen, Momenten oder Gemeinschaften noch so sehr betonen. Aber in einer digitalisierten Welt, in der alle ständig senden, von überall und bei allem, was sie tun, sind die echten Rückzugsorte rarer geworden. Die Naivität, das Unverbrauchte, das Zauberhafte von etwas zum ersten Mal Erlebtem ist lange tot, und auf dem Grab tanzt eben das Ritual.

Was nun die Musik betrifft, liegt die Sache sehr anders. Es klingt verrückt, und doch ist es wahr: Von Dienstagvormittag bis zum späten Donnerstagabend war nicht eine einzige Band zu hören, die das, was sie spielte, nicht fantastisch gespielt hätte. Technisch perfekt. Und emotional auch. Das gilt für die Dudelsackformationen. Das gilt für den Akkordeon-Folklore-Speed-Metal. Es gilt für die A-Cappella-Band. Es gilt für den brutalen Hochgeschwindigkeits-Thrash-Metal der Suicidal Angels. Es gilt für den unbändigen Spaß der Iron Maidens (Tribute Band, nicht das Original) und die feine Rock’n’Roll-Rotzigkeit von Thundermother. Überhaupt ist die Frauenquote auf den Bühnen für die Szene übrigens einigermaßen hoch. Es gilt für die immer leicht ins Schlagerartige hinüberlugende Metal-Oper der Allstar-Formation Avantasia. Oder für die Schweden von Mister Misery, deren dick geschminkter Schock-Rock sich derart brutal, kompakt und physisch spürbar um den Torso des Zuhörers wickelt, dass sich damit vermutlich auch gröbere Haltungsschäden beheben lassen.

Und das alles ist nun wiederum sehr direkt mit dem Selbstverständnis dieser Szene verknüpft (und dem guten Booking). Man nimmt sehr ernst, was man tut, und dabei eben nicht nur Pose, Attitüde und Show, was alles auch wichtig ist, sondern auch: das Handwerk. Die Technik, das Achtung, gähn: Üben am Instrument. Doch, doch. Neben all dem vermeintlichen Wahnsinn, der Schminke, dem Leder, den Ketten, Nieten und Kutten, neben dem Kunstblut und den Säugetiergebeinen ist da eben immer, ausnahmslos immer auch präzises, Schweizer-Uhrwerk-exaktes Arbeitsethos – manisch, akribisch und wirklich atemberaubend gut…….

Und das setzt sich bei den Fans so fort. Man trägt die Shirts und Festivalbändchen, die Kutten und Patches wie Abzeichen und mit einem beinahe religiösen Ernst. Was um Himmels willen nicht heißt, dass man Humor oder auch Ironie hier nicht kennt. Es gibt beides. Aber es gibt für beides Grenzen, und das kann einer Kunstform offenbar enorm guttun….

Und es wird so sein, dass Alien-Archäologen, wenn sie in vielen Jahrtausenden graben, jede Menge Handknochen finden werden und daran Finger, von denen zwei abstehen, wie die Hörner bei einer Kuh. Und in der Nähe der Hände werden Schädel liegen und obwohl sie längst keine Muskeln und kein Fleisch mehr tragen, wird man an ihnen erkennen, dass ihre Besitzer mit einem Lächeln aus dieser Welt entschwunden sind……….(SZ)