Die von der Politik geforderte „generationenübergreifende Solidarität“ weist derzeit offenbar nur in eine Richtung. Die Jungen und Gesunden sollen sich für die Alten und die Risikogruppen zusammenreißen und verzichten. Wagen sie es trotzdem, allein den Gedanken zu formulieren, dass sie gerne mal aus dem tristen, pandemischen Alltag ausbrechen würden, begegnet man ihnen mit Unverständnis und Häme. Das ist weder fair noch hilfreich. Wer eine Spaltung der Gesellschaft über die Frage, wer sich wie weit einschränken muss, wirklich verhindern will, sollte Nachsicht, ja vielleicht sogar Empathie für die derzeitige Situation junger Menschen zeigen.
Denn aus der Perspektive der arrivierten Familie oder des über 70-Jährigen ist es leicht zu behaupten, dass Familienurlaube und Erwerbsarbeit wichtiger seien als unbeschwerte Feierei. Was in der momentanen Krise verzichtbar ist und was man, wie Ida es ausdrückte, „krass vermisst“ hängt maßgeblich vom eigenen Lebensalter und -entwurf ab. In Deutschland, wo das Durchschnittsalter der Bevölkerung knapp 45 Jahre beträgt und das der Abgeordneten im Bundestag sogar 49, ist recht klar, wer die Deutungshoheit hat: die Älteren, Etablierten. Und die sagen: „Verzichtet!“ Aber das ist leicht zu fordern, wenn man selbst alles schon erlebt hat. Wenn feiern, knutschen, reisen, kurz: leben in der eigenen Jugend noch erlaubt waren.
Und es ist ja nicht so, dass die junge Generation in den vergangenen Monaten nicht verzichtet hätte. Einer aktuellen Studie der TUI-Stiftung zufolge gaben im Oktober 2020 nur zwei Prozent der 16- bis 26-jährigen Befragten an, sich überhaupt nicht an die Corona-Beschränkungen zu halten. Sieben Prozent fanden die derzeitigen Regeln „übertrieben“. Nun sind wie man etwas empfindet und wie man handelt zwei sehr unterschiedliche Dinge. Und natürlich hat die Stigmatisierung der Jungen ihren sehr realen Ursprung in der hohen Zahl der Neuinfektionen in der Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen. Aber: An den bisher von den Gesundheitsämtern identifizierten Superspreader-Events wie Hochzeiten, Familienfeiern, Kirchenbesuche, Privatpartys in Restaurant waren nicht nur junge Menschen beteiligt. Vielleicht ist der Wunsch nach einem Ausbruch aus der aktuellen Situation also gar nicht nur ein Phänomen der Jugend.
Auch das Vergleichen der Verzichte, die derzeit jeder Einzelne leistet, ist nicht zielführend. Nur weil junge Menschen ein geringes Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken, heißt das nicht, dass sie nicht unter der Pandemie leiden. Wer dieses Semester sein Studium beginnt, findet schwer Anschluss in digitalen Hörsälen und ohne Ersti-Partys. Berufseinsteigerinnen und -einsteiger kommen auf einen schwierigen Arbeitsmarkt. Viele junge Menschen leben in kleinen WG-Zimmern, sich zu den Eltern zurückziehen ist aufgrund des Infektionsrisikos nicht gern gesehen. Das alles bedeutet nicht nur, dass junge Menschen meist wenig Raum haben, wo sie die Kontaktbeschränkungen aussitzen können, sondern dass ihnen auch die klassische Kernfamilie fehlt. Kontakte in der Uni oder Ausbildung, abends ausgehen oder mit Freunden verreisen – all das ist in dieser Schlüsselphase des Lebens wichtig, um ein soziales Netz aufzubauen, das oft jahrzehntelang hält.
Angesichts dessen ist es nicht gerecht, eine besondere Bringschuld der Jugend in der Pandemie zu beschwören. Junge Menschen haben nicht erst seit diesem Jahrtausend ein stärkeres Bedürfnis nach intensiver Begegnung und nach rauschhaften Erlebnissen als die ältere Generation. Diese Sehnsucht nach Gemeinschaft und Ablenkung ist nicht dekadent. Beides ist wichtig für ein glückliches Leben. Und damit auch für die psychische Gesundheit, die bei allen Diskussionen um leibliche Unversehrtheit leider oft vergessen wird. Zumal es längst nicht mehr nur um ein paar Wochen geht, sondern um einen Verzicht von unabsehbarer Dauer……… (SZ 24,/25.10.)